36 Freiwillige =^_^=

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1944 unterzogen sich 36 Freiwillige einem der bedeutensten Experimente der modernen medizinischen und psychologischen Wissenschaften. Praktisch alles was wir heute über die Effekte von dramatischer Unterernährung auf den Menschen wissen stammt aus dieser Zeit.

Das Minnesota Starvation Experiment:https://de.wikipedia.org/wiki/Minnesota_Starvation_Experiment

Artikel zum Thema (Englisch)
http://www.apa.org/monitor/2013/10/hunger.aspx
http://www.bbc.com/news/magazine-25782294

Bild: http://civilianpublicservice.org/camps/115
http://www.bbc.com/news/magazine-25782294

 

#036 – 36 Freiwillige

Achtest Du auf Deine Ernährung? Vielleicht darauf, wie gesund und ausgewogen die Nahrung ist, die Du zu Dir nimmst? – Nein?

In aller Regel in unseren Breiten, wenn wir uns Gedanken um unsere Ernährung machen und ich bin da keine Ausnahme, dann machen wir uns Gedanken darum, was wir zu viel oder falsch zu uns nehmen. Natürlich gibt es diesen Luxus nicht überall. Es gibt Menschen auf dieser Welt, die haben nicht genug zu essen. Und wir alle wissen, es gibt Gebiete, in denen herrscht bitterer Hunger, obwohl wir seit tausenden von Jahren genau wissen, wie es aussieht, wenn Menschen verhungern, wissen wir erstaunlich wenig darüber, was Hunger mit Menschen bewirkt.

Praktisch alles, was wir an gesicherten, wissenschaftlichen Erkenntnissen zu dem Thema haben, lässt sich auf ein Experiment in den 40er Jahren in den USA zurückführen. Das Minnesota Starvation Experiment. Und darum geht es heute.

Doch vielleicht erst mal zurück zu der Frage: Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Verhungern sprechen? Ganz generell wissen die meisten Menschen in unseren Breiten, wie die Mechanik rund um die Ernährung funktioniert. Wir brauchen einen gewissen Mix an Nährstoffen, die wir zu uns nehmen und diese Nährstoffe haben einen Brennwert und wir verbrauchen Energie mit unseren täglichen Aktivitäten und wir nehmen Energie zu uns durch diese Nährstoffe.

Wenn wir mehr zu uns nehmen als wir verbrauchen, nehmen wir zu. Wenn wir weniger zu uns nehmen als wir verbrauchen, nehmen wir ab. Was nehmen wir da eigentlich zu und ab? Bei uns, die meisten Menschen nehmen ihre Fettreserven zu und ab. Wenn ich also weniger esse, dann baut mein Körper Fett ab. Als Ergebnis werde ich dünner. Was passiert aber, sobald alle Fettreserven aufgebraucht sind?

Das ist auch ganz einfach: Dann fängt der Körper an Einsparungen vorzunehmen. Einsparungen bei nicht essentiellen Körperbestandteilen, wie zum Beispiel Muskelgewebe. Je leichter wir werden, desto weniger Muskeln brauchen wir, dann kann man sowieso Muskelmasse einsparen und irgendwann ist es dann auch so, dass immer mehr Muskel abgebaut wird, um Energie zu gewinnen.

Es mag jetzt creepy klingen, aber ein Stück weit ist es so, als würden wir uns mehr oder weniger selbst verdauen zur Energiegewinnung. Das heißt, wenn man Menschen auf eine sehr, sehr niedrige Diät setzt und wartet bis alle Reserven verbraucht sind, fangen sie an ihre eigene Substanz abzubauen. Als Ergebnis wird der Mensch immer schwächer. Menschen, die kurz vorm verhungern stehen, können sich manchmal gar nicht mehr richtig aufrecht halten, Arme heben, all diese Dinge, weil keine Muskeln mehr dafür da sind.

Gleichzeitig wird man anfällig für ganz bestimmte Verletzungen, die vermieden werden, wenn man über einen trainierten Muskelkörper verfügt, der bestimmte Stöße oder plötzliche Bewegungen abfedert und kontrollierbar macht. Nun ist es so, dass Hungersnöte schon immer existiert haben seit es die Menschheit gibt. Es ist außerdem so, dass Menschen sich gegenseitig verhungern ließen. Als Strafe, als Folter, als Ergebnis von Kriegen und das ist auch heute noch so.

Im zweiten Weltkrieg war Hunger in Europa. Millionen Menschen hatten nicht genug zu essen und Millionen verhungerten wahlweise in Lagern als Kriegsgefangene oder auch in der Bevölkerung, weil die Infrastruktur praktisch vernichtet war. Die Experten der damaligen Zeit hatten aber ein Problem: Obwohl wir Jahrtausende Erfahrungen darin hatten, wie denn das aussieht, wenn Menschen verhungern, wusste man kaum etwas über die körperlichen und psychischen Folgen von Hunger oder verhungern. Und man wusste vor allen Dingen nicht, wie man damit umzugehen hat, wenn man einen nahezu verhungernden Menschen antrifft und ihm helfen will.

Es ist tatsächlich so, dass ab einem gewissen Stadium des Verhungerns der Magen aufhört richtig zu funktionieren; das Immunsystem zusammenbricht; bestimmte Krankheitsbilder auftauchen, wie Pilzinfektionen, bakterielle Infektionen, die normalerweise bei gesunden Menschen eben nicht zum Tragen kommen. All diese Effekte müssen behandelt werden, will man einen Menschen retten, der kurz vorm Verhungern ist.

Wann spricht man eigentlich vom Verhungern? Verhungern ist, wenn ein Mensch 30% seines normalen Körpergewichts verloren hat. Bei 40% wird es in der Regel kritisch bis zu dem Punkt, dass das Ableben der Person, die betroffen ist, praktisch nicht mehr zu verhindern ist. Interessant ist, dass wir kaum Wissen darüber haben, wie lange ein Erwachsener Mensch tatsächlich ohne Nahrung überleben kann. Im Allgemeinen wird gesagt, 8 bis 12 Wochen. Aber es gibt Einzelfälle, die tatsächlich bis zu 25 Wochen gehungert haben, bevor sie starben.

Das war nun die Ausgangssituation im zweiten Weltkrieg. Europa praktisch hungernd und kein Wissen darüber, wie man darauf reagiert. 1944 nun, kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs, beschloss daher die University of Minnesota ein Experiment durchzuführen, um diese Fragen zu klären.

Die Idee: Eine nennenswerte Anzahl erwachsener, gesunder Menschen für ein Jahr durch verschiedene Phasen der Ernährung zu führen, dabei zu dokumentieren, wie die Entwicklung in der Zeit ist und systematisch zu erforschen, wie sich der Körper und die Psyche verändert unter extremen Ernährungsbedingungen.

Es waren 36 Freiwillige, die damals an diesem Experiment teilnahmen. Zunächst starteten sie mit einer Standard-Diät mit 3.200 Kalorien täglich, um die Baseline zu erfassen. Dann 24 Wochen hungern, mit 2 Mahlzeiten pro Tag, insgesamt 1.560 Kalorien pro Tag. Danach gab es eine Rehabilitationsphase von 12 Wochen, in denen kontrolliert wieder aufgebaut wurde und dann eine vollkommen freie Phase, in der gegessen werden durfte, was immer in den Sinn kam. Ärzte zeichneten dabei Effekte auf wie eine sinkende Körpertemperatur, die Kraftlevel, die Zusammensetzung des Körpers und all diese Themen. Psychologen erfassten Effekte wie Mangel an Konzentration, kognitive Leistungsfähigkeit, die relativ schnell tatsächlich zurückgeht. Besessenheit vom Thema Essen. Menschen die hungern, können an kaum etwas anderes denken und setzt man sie entsprechenden Triggern aus, sind sie auch nicht mehr in der Lage, einen anderen Gedanken zu verfolgen als den an Nahrung. Die Motivation leidet, bestimmte Wahrnehmungen brechen ein. Beispielsweise wird der Magen kleiner und wenn er klein genug ist, können Menschen nicht mehr feststellen, ob sie hungern oder Durst haben. Als Ergebnis neigen sie dazu, zu dehydrieren.

Alle diese Effekte wurden aufgezeichnet und es gibt ein 1.385-seitigen Text mit dem klangvollen Titel “The biology of human starvation”, der detailliert in 50 Kapitel beschreibt, was genau in unseren Körpern und in unserer Psyche vor sich geht, wenn wir durch einen solchen Prozess gehen.

Das Ende des Kriegs nahm dem Minnesota Starvation Experiment ein wenig die Publicity. Wenn das Experiment startete, war es tatsächlich von der Presse und der Öffentlichkeit massiv begleitet, aber natürlich war die Nachricht vom Ende vom zweiten Weltkrieg etwas, was das Thema überstrahlt hat. Aber die Erkenntnisse dieser Studie rettete danach tausenden und abertausenden Menschen das Leben und sind immer noch Grundlage aller modernen Methodiken, mit denen wir Menschen helfen, die kurz vorm Verhungern stehen.

Und die Teilnehmer, finde ich, kann man tatsächlich als Helden im Dienste der Wissenschaft bezeichnen. Es ist tatsächlich kein Zuckerschlecken auf ein Einjahresexperiment zu gehen, wenn wir in unserer Wohlstandsgesellschaft es nicht mal schaffen auf eine Tüte Chips zu verzichten. Wie muss es dann tatsächlich sein, ein halbes Jahr lang zu hungern?

Drei der Teilnehmer haben es tatsächlich auch nicht geschafft. Die brachen das Experiment ab und ein weiterer Teilnehmer wurde aus der Studie entfernt, weil er nicht genügend Gewicht verloren hat, auch wenn man ihm nicht nachweisen konnte, dass er vielleicht heimlich zugegessen hat.

Ich fand das in Vorbereitung auf diese Episode durch und durch faszinierend festzustellen, dass wir erst seit den 40er Jahren überhaupt eine detaillierte Dokumentation über den Effekt von Hunger haben und dass wir eigentlich immer noch verhältnismäßig wenig darüber wissen, wie unser Körper unter diesen Bedingungen funktioniert. Und das Minnesota Starvation Experiment hat da viel Licht ins Dunkel gebracht und viel Gutes bewirkt.

Und damit gehe ich jetzt mal Mittagessen, Du vielleicht Frühstücken und wir hören uns dann eventuell morgen wieder.

Bis bald.